Sommer am Pont-du-Gard – Kapitel 7

Das Blaulicht war schon von Weitem zu sehen. Es ging nur langsam auf dem Boulevard Gambetta vorwärts. Ganz vorne stand ein Krankenwagen und die Autos mussten langsam daran vorbei.

Christina dachte an den schönen Vormittag. André und sie hatten ein paar Stunden am Pont du Gard verbracht. Sie sind über den alten Viadukt spaziert und sie war beeindruckt, wie man zur damaligen Zeit solche Bauwerke erschaffen konnte. André war ein hervorragender Reiseführer, der viel über den Pont du Gard wusste. Der alte Olivenbaum gleich rechts am Pont du Gard hatte es ihr angetan. André und sie kamen den Weg runter und da stand er. Er zog sie magisch an. Wie alt mochte der Baum sein? Sie löste ihre Hand aus Andrés und ging zu dem Olivenbaum. Christina umschlang den Baumstamm mit beiden Armen und legte ihren Kopf an seinen alten Stamm. Die Augen geschlossen. Die Rinde war rau und warm. Es ging eine Ruhe von ihm aus, die sich auf Christina übertrug. Nur ganz langsam konnte sie sich nach einer Weile von ihm lösen. Sie schaute hoch in die Baumkrone, streichelte noch einmal über die Rinde und ging zu André zurück. Ohne ein Wort zu sagen, gingen sie Hand in Hand weiter. Zum Schluss hatten sie an der rechten Uferseite noch einen Kaffee im Restaurant „Les Terrasses“ getrunken und dann mussten sie wieder zurück, aber erst, als André Christina das Versprechen gab, bald wieder hierherzufahren.

Und nun standen sie hier und es ging nur ganz langsam voran. Sie kamen dem Krankenwagen immer näher. Auf einmal sah Christina Loulou aus dem Haus kommen und hinter ihr die Sanitäter mit einer Trage.

„Halt an“, sagte sie aufgeregt zu André.

„Was ist los?“, fragte er.

„Bitte! Lass mich raus! Ich muss zu Loulou. Mit Madame Legrand ist etwas nicht in Ordnung.“ Christina griff schon zur Tür. Sie sprang aus dem Wagen, beugte sich noch einmal ins Wageninnere und sagte: „Wir telefonieren, ja.“

Dann rannte sie durch die wartenden Autos auf die andere Seite des Fußweges auf den Krankenwagen zu. André schaute ihr hinterher. Die Autos vor ihm fuhren langsam an und die hinter ihm begannen zu hupen.

„Ja doch!“ Er musste weiter.

„Loulou!“

Das Mädchen drehte sich um, als sie ihren Namen hörte. Als sie Christina erkannte, lief sie auf sie zu.

„Was ist passiert? Was ist mit deiner Großmutter?“, fragte Christina.

„Ich weiß es nicht. Sie lag auf einmal da und rührte sich nicht mehr.“ Loulou konnte vor Aufregung kaum sprechen. Ihre Augen waren ganz rot vom Weinen und sie hatte hektische rote Flecken auf den Wangen.

Christina und das Mädchen merkten gar nicht, dass sie mitten auf dem Fußweg den Passanten im Weg standen. Einige murrten, weil sie um sie herumgehen mussten. Vorne um den Krankenwagen hatte sich eine Traube von Menschen gebildet, die neugierig sehen wollten, was passiert war. Ein Polizist, bat die Zuschauer zurückzutreten, und nicht im Weg zu stehen.

„Kann ich dir helfen? Habt Ihr Gäste im Hotel?“, fragte Christina

Loulou schüttelte den Kopf. „Nein, die nächsten Gäste reisen erst übermorgen an.“

„Wenn du Hilfe brauchst, Loulou, dann sag Bescheid.“

„Christina“, Loulou zitterte als wenn sie fröstelte, „kannst du mit ins Krankenhaus kommen? Ich habe Angst“, sagte sie leise. Wo sie vor ein paar Minuten noch ganz rote Wangen hatte, überzog jetzt eine Blässe ihr ganzes Gesicht. Sie sah erbarmungswürdig aus. Aus dem selbstbewussten kecken Teenager war ein kleines hilfloses Mädchen geworden.

„Wenn die Sanitäter nichts dagegen haben, komme ich mit. Komm!“ Christina legte ihr den Arm um die Schulter und sie gingen zum Krankenwagen. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, dann durften sie hinten einsteigen und sich an die Seite setzen. Madame Legrand lag angeschnallt auf der Trage, die Augen geschlossen. Sie war von Natur aus keine große Frau, aber jetzt sah sie noch viel kleiner und zusammengefallener aus. Der Sanitäter saß neben ihr und überwachte Puls und Blutdruck. Loulou streichelte zärtlich die Hand ihrer Großmutter.

Im Krankenhaus mussten Christina und Loulou auf dem Gang warten, während Madame Legrand untersucht wurde. Die Zeit zog sich und wollte nicht rumgehen. Loulou konnte nicht still sitzen und ging immer den Gang rauf und runter. Vor der Tür zur Notaufnahme blieb sie stehen und schaute ängstlich auf die Milchglasscheibe. Aber die Tür blieb zu.

„Was mach ich, wenn sie nicht mehr gesund wird? Wenn sie stirbt?“, sagte Loulou leise und drehte sich zu Christina um. Tränen rannen ihr über die Wangen. „Ich hab doch nur noch sie.“

Christina ging zu dem Mädchen und nahm es in den Arm. „So weit wollen wir gar nicht denken. Die Ärzte werden alles tun. Glaub mir.“

Beide gingen zurück zu der Stuhlreihe, setzten sich wieder und schauten auf die kahle Wand gegenüber, als wenn sie dort die Antwort auf ihre vielen Fragen finden würden. Loulou fasste nach Christinas Hand. Beide saßen nun Hand in Hand da und warteten. Die Ungewissheit war fürchterlich. Christina hatte Madame Legrand und Loulou noch gar nicht so lange gekannt, aber die beiden waren ihr von Anfang an sympathisch. Ihr Handy klingelte in der Tasche. Es war André, der sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei. In kurzen Worten schilderte sie ihm die Situation. Sie wollte sich später bei ihm melden.

Beide schreckten zusammen, als sich die Tür mit der Milchglasscheibe am Ende des Ganges öffnete. Loulou sprang sofort auf und rannte dem Arzt entgegen, der auf sie zukam. Christina ging ihr nach. Sie wollte bei ihr sein, falls die Informationen nicht so ausfallen sollten, wie sie sie sich erhofften.

„Was ist mit meiner Großmutter?“, fragte sie aufgeregt. „Ist es schlimm? Wird sie wieder gesund?“ Sie hatte wieder die hektischen roten Flecke auf den Wangen. Ihre Augen schauten den Arzt flehentlich an und ihre Hand suchte die von Christina.

„Kommen Sie, wir setzen uns.“, sagte der Arzt in einer ruhigen und freundlichen Art. Mit der einen Hand dirigierte er Loulou in Richtung Stuhlreihe, die andere hatte er in der Tasche seines weißen Kittels.
„Mein Name ist Dr. Garcia. Sind Sie die Mutter der jungen Dame?“, fragte er und schaute Christina an.

„Nein, ich…“

Ja, was war sie eigentlich. Was sollte sie sagen. Normalerweise würde sie über den Gesundheitszustand von Madame Legrand gar keine Auskunft bekommen. Sie gehörte nicht zur Familie.

„Ich bin eine Freundin der Familie.“, sagte Christina schnell. „Ich kümmere mich um Loulou, solange ihre Großmutter im Krankenhaus ist.“

Loulou rutsche mit ängstlichen Blicken auf der Stuhlkante hin und her. Der Arzt wandte sich wieder an das Mädchen.

„Die Untersuchungen haben gezeigt, dass deine Großmutter einen Schlaganfall hatte. Wir müssen abwarten, bis sie wieder aufgewacht ist. Erst dann können wir sehen, ob das Sprachzentrum betroffen ist und inwieweit sie sich bewegen kann.“

„Wird sie wieder gesund?“, fragte Loulou leise.

„Sie ist außer Lebensgefahr. Alles andere müssen wir abwarten. Gehen Sie nach Hause. Sie können im Moment nichts machen.“

„Ich möchte gerne bei ihr bleiben.“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sie liegt auf der Intensivstation. Kommen Sie morgen wieder, dann wissen wir schon mehr.“

Christina hatte Loulous Hand die ganze Zeit nicht losgelassen. Sie schaute den Arzt an, während er mit ihr sprach. Er machte einen vertrauensvollen Eindruck. Was blieb ihnen auch anderes übrig.

„Komm, wir gehen erst mal und morgen früh kommen wir wieder und schauen, wie es deiner Großmutter geht.“

Sie bedankte sich bei dem Arzt und ging mit Loulou in Richtung Ausgang. Sie versuchte, sich zu orientieren, denn als sie vor einigen Stunden hier ankamen, hatten sie keinen Blick für ihre Umgebung, sondern sind einfach immer nur schnellen Schrittes dem Hinweis Notaufnahme gefolgt. Als sie draußen ankamen, blieben sie erst einmal stehen. Hier war alles wie immer. So, als ob nichts gewesen wäre. Die Sonne schien, Autos fuhren auf den Parkplatz, ein Taxi hielt vor dem Eingang, Menschen gingen rein, andere kamen raus. Alles ging seinen Gang und doch war von einem Moment auf den anderen für Loulou eine Welt zusammengebrochen. Christina schaute auf die Uhr. Sie hatten Stunden im Krankenhaus zugebracht.

„Du kommst heute mit zu mir“, sagte Christina entschlossen. „Du bekommst mein Bett und ich schlafe auf der Couch.“ Loulou nickte nur und war froh heute Nacht nicht alleine sein zu müssen in der Wohnung.

 

***

Christina schaute noch einmal ins Schlafzimmer. Endlich war Loulou eingeschlafen. Ihre langen blonden Haare lagen wie goldenes Lametta auf den Kissen und ihre Gesichtszüge hatten sich entspannt. Sie schlief tief und fest. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte sie wie ein Häufchen Elend mit rot geweinten Augen auf dem Sofa gesessen. Nach vielen Überredungskünsten aß sie ein paar Happen zu Abend, dann wollte sie sich einfach nur hinlegen. Christina bezog das Bett neu und zeigte ihr das Badezimmer. Eine ganze Weile klang noch ihr Weinen aus dem Schlafzimmer.

Die Terrassentür stand auf. Es hatte sich nicht groß abgekühlt. Der Garten verströmte seinen Duft und Christina, die in der Tür stand und zum Himmel schaute, dachte an André. Ob sie ihn wohl noch mal anrufen konnte? Das Restaurant war noch nicht geschlossen und er hatte bestimmt genug zu tun. In dem Moment ging ihr Handy. Sie schaute auf das Display und lächelte, als sie den Namen las.

„Hallo. Ich habe gerade an dich gedacht.“, sagte sie.

„Das war wohl Gedankenübertragung.“, antwortete André. „Wie geht es dir?“

Es war schön, seine Stimme zu hören. Christina erzählte ihm, wie der Tag für Loulou und sie verlaufen war. „Morgen erfahren wir mehr. Hoffentlich wird alles gut. Ich wünsche es Loulou so sehr.“

„Dann schlaf jetzt. Wir hören oder sehen uns morgen.“ Leise sagte André noch: „Ich vermisse dich.“

„Das ist schön. Ich vermisse dich auch.“, sagte Christina zärtlich. „Schlaf gut.“

  Nach dem Anruf holte sie eine große Wolldecke und ein Kissen aus der Weidentruhe neben dem Sofa und baute sich ein provisorisches Bett. Für eine Nacht würde es schon gehen.

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4 Antworten

  1. Liebe Gudrun
    Wie du sagst, alles der Reihe nach. Zuerst den Sommer geniessen, hier auf der Grünen Insel erwarten uns ein paar Tage Sonne und warme Temperaturen, das heisst so um die 20 Grad..das sagt der Wetterfrosch. Im Moment windet es noch und die Sonne versteckt sich hinter dicken Wolken.
    Schade dass du momentan nicht nach Frankreich reisen kannst – dafür ein Buch zu schreiben finde ich eine wunderbare Möglichkeit deinem Herzensort trotzdem nahe zu sein – ich lese gerne mit und bin gespannt wie es weitergeht.
    Hab eine gute Zeit liebe Gudrun.
    Herzliche Grüsse aus dem Cottage, gertrud

  2. Liebe Gudrun,

    danke für diesen Abstecher nach Frankreich – ich versuche, gleich noch das nächste Kapitel zu lesen.
    Nach 4 Monaten Kurzarbeit – in diesem Fall gleich Null – wieder im Büro suche ich gerade meinen Rythmus.
    Liebe Grüße
    Nicole

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