Sommer am Pont-du-Gard – Kapitel 8

Am nächsten Morgen musste sich Christina erst besinnen, warum sie auf dem Sofa lag. Dann fiel ihr der gestrige Tag ein. Hoffentlich ging es Madame Legrand heute besser. Sie mochte sie gern. Sie erinnerte sie etwas an ihre Oma, die vor einigen Jahren aber schon verstorben war. Und Loulou, die einerseits so erwachsen tun wollte und dabei ein ängstlicher, verunsicherter Teenager war. Das war aber auch kein Wunder, immerhin hatte sie niemanden mehr als ihre Großmutter.

Christina hörte ein Geräusch. Sie richtete sich auf und schaute sich um in Richtung Terrassentür. Hatte sie gestern Abend vergessen, diese zu schließen? Eine leise Stimme und danach ein wohliges Knurren kam von draußen. Das hörte sich nach Beau an. Aber die Stimme gehörte nicht Leo. Sie stand auf und ging auf die Terrasse. Vor ihr auf der Erde saß Loulou und neben ihr lag Beau. Sie sprach leise mit ihm. Sein Schwanz wedelte hin und her und seine braunen Augen schauten das Mädchen an.

„Du bist ja schon auf.“, sagte Christina.

„Ja, schon eine ganze Weile. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich möchte zu Grandmer.“

„Lass uns wenigstens eine Kleinigkeit frühstücken. Dann fahren wir. Ich gehe schnell ins Bad.“

Christina verschwand wieder nach drinnen. Loulou richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Beau. Nach einer Weile rief Christina sie zum Frühstück. Es gab Brioch, Konfitüre und Butter und eine große Tasse Milchkaffee.

***

Im Krankenhaus mussten sie sich erst durchfragen, bis sie den netten Arzt von gestern Abend gefunden hatten.

„Deine Großmutter ist aufgewacht.“, sagte er. Loulou strahlte über das ganze Gesicht.

„Wie geht es ihr.“, fragte sie aufgeregt.

„Sie hat Glück gehabt. Keine Lähmungen, keine Sprachschwierigkeiten. Es ist alles noch mal gut gegangen.“

„Darf ich zu ihr?“

„Sie braucht noch sehr viel Ruhe. Aber du kannst kurz zu ihr. Sie hat schon nach dir gefragt.“, der Arzt lächelte nachsichtig. „Den Gang runter, Zimmer 14 auf der rechten Seite.“

Loulou ging in die gezeigte Richtung. Sie drehte sich kurz um und sagte: „Danke.“ Dann lief sie weiter immer mit dem Blick auf die Zimmernummern. Vor der Nummer 14 blieb sie stehen und klopfte nach kurzem Zögern an. Sie machte vorsichtig die Tür auf und ging leise hinein.

Christina schaute Loulou hinterher. „Danke vielmals.“, sagte sie zu dem Arzt und ging ihr eilig nach. Sie betrat das Zimmer kurz nach Loulou und blieb an der Tür stehen. Keine der beiden hatte sie bemerkt. Das Mädchen saß auf der Bettkante und streichelte die blasse, kleine Hand ihrer Großmutter. Die große Erleichterung war ihr anzumerken. Genauso war es ihr auch ergangen, als ihr Vater vor einiger Zeit mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus lag. Zu der Zeit war sie noch in Hamburg. Sie und ihre Mutter hatten sich täglich am Krankenbett abgewechselt. Arbeiten war für beide kaum möglich, aber ihre Mutter konnte die Galerie nicht schließen und Christina musste sich zwischendurch auch immer im Verlag blicken lassen. Was waren sie froh, als das Schlimmste überstanden und der Vater auf dem Weg der Besserung war.

„Loulou, meine Kleine.“, ein zaghaftes Lächeln kam auf Madame Legrands Lippen. „Hab ich dich erschreckt? Es tut mir leid.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Hauptsache du wirst schnell wieder gesund und bist bald wieder zu Hause.“

„Das wird wohl noch etwas dauern. Die Ärzte möchten, dass ich zur Kur fahre. Aber das geht nicht. Du kannst doch nicht so lange allein bleiben. Das Jugendamt wird damit nicht einverstanden sein.“

„Ich geh nirgendwohin.“, sagte Loulou aufgebracht. „Ich bleibe zu Hause, bis du wieder da bist. Oder….“

Loulou drehte sich um in Richtung Tür. Christina stand dort immer noch. Sie wollte die Zweisamkeit von Großmutter und Enkelin nicht stören.

„Christina, kann ich nicht bei dir bleiben?“, fragte sie mit flehenden Augen.

Madame Legrand bemerkte Christina und hob schwach die Hand. „Kommen Sie ruhig näher Madame Bauer. Ich hätte Sie lieber unter anderen Umständen wiedergesehen.“

„Großmutter, ich war heute Nacht bei Christina. Kann ich nicht bei ihr bleiben, bis du wiederkommst?“

Loulou war aufgeregt. Auf keinen Fall wollte sie für die Abwesenheit ihrer Großmutter vom Jugendamt irgendwo untergebracht werden und zu ihrer Tante wollte sie schon gar nicht.

„Das geht nicht ma cherie. Madame Bauer macht hier Urlaub. Wir können Sie unmöglich darum bitten.“

„Madame Legrand, schön, dass es Ihnen ein wenig besser geht.“

„Christina, bitte!“ Loulou schaute Christina flehentlich an.

„Loulou, wir dürfen deine Großmutter nicht aufregen. Du kannst heute bei mir übernachten und wir besprechen alles weitere heute Abend.“

An Madame Legrand gewandt sagte sie: „Ihre Enkelin sagte, dass Sie morgen Gäste erwarten?“

„Ja. Ich konnte ihnen nun gar nicht mehr absagen.“

Christina schaute sie beruhigend an. „Ich werde mich morgen früh darum kümmern. Alles Weitere werden wir sehen. Jetzt ruhen Sie sich erst mal aus.“

„Ich komme morgen wieder, Großmama.“ Loulou beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Kurz bevor Christina und sie rausgingen, winkte sie ihr noch einmal zu.

Auf dem Weg zum Auto legte Christina Loulou den Arm um die Schulter. „Siehst du, alles wird gut.“ Loulou schaute sie an und nickte glücklich.

„Wir holen jetzt schnell deine Schulsachen und dann bringe ich dich noch zur Schule.“

Das Mädchen schaute, als wenn sie nicht sehr froh darüber war. „Das wird meinem Lehrer nicht gefallen, wenn ich jetzt erst komme.“, sagte sie kleinlaut.

„Warum? Du sagst ihm einfach, was los ist.“

„Ich habe in letzter Zeit öfter gefehlt, wenn Großmama krank war. Er glaubt mir nicht mehr und denkt, das sind Ausreden.“ „Wenn er dir diesmal auch nicht glaubt, dann lassen wir uns morgen vom Krankenhaus eine Bescheinigung geben. Los jetzt. Sachen holen und ab in die Schule.“

***

Christina parkte ihr Auto. Sie ging bis vor das Haus und rief im Eingang nach Danielle. „Hier bin ich.“, rief eine Stimme. Christina ging dem nach und schaute in die Küche. Hier war es schön kühl. Die Sonne schien den ganzen Tag nicht rein. In der Mitte stand ein runder Tisch mit vier Stühlen. Auf dem Tisch ein Krug mit Blumen aus dem Garten.

„Salut. Möchtest du auch einen?“ Danielle hielt eine Kaffeekanne hoch.

„Gerne.“ Sie setzte sich. „Den kann ich jetzt brauchen.“

Danielle goss den Kaffee ein und setzte sich zu ihr. „Warum? Was ist los?“

Sie berichtete, was sich in den letzten fast 24 Stunden ereignet hatte. Eigentlich sollte es nur eine kurze Version werden, aber Christina erzählte alles bis ins kleinste Detail. Aufmerksam hörte Danielle ihr zu. „Und was willst du jetzt machen?“, fragte sie am Ende.

„Ich gehe morgen erst einmal ins Hotel. Mal sehen, wann die Gäste ankommen und wie lange sie bleiben werden. Nur das Frühstück zubereiten und das Zimmer machen, das ist nicht das Problem. Kann Loulou hier bei mir bleiben? Hättest du was dagegen?“

„Nein, natürlich nicht. Aber du wolltest eigentlich Urlaub machen, oder?“, sagte Danielle.

„Ja, du hast recht. Aber so viel Arbeit ist das nicht. Das geht schon. Ich mache mir vielmehr Gedanken, was passiert, wenn das Jugendamt davon erfährt, dass Loulou’s Großmutter im Krankenhaus ist. Vielleicht wird sie dann wo anders untergebracht. Das will sie nämlich auf gar keinen Fall. Oder wie ist das bei Euch in Frankreich?“

„Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Warte doch erst mal ab.“ Danielle stand auf und holte die Kaffeekanne. Sie goss noch einmal nach und stellte etwas Gebäck dazu. „Magst du? Greif zu.“

„War denn das mysteriöse Auto gestern oder heute schon wieder da?“, fragte Christina.

„Nein zum Glück nicht und ich hoffe, es kommt auch nicht wieder.“

„Vielleicht habe ich ihn vertrieben mit meinem Auftritt.“, sagte sie und beide Frauen lachten.

Christinas Handy klingelte. Sie schaute und errötete. „Salut“, sagte sie. „Wie gehts dir.“

„Das wollte ich dich gerade fragen“, erwiderte André am anderen Ende

„Loulou‘s Großmutter geht es besser. Ich wollte zum Mittag zu dir kommen. Ist das ok? Dann kann ich dir alles erzählen. Ich bin gerade bei Danielle. Wir trinken einen Kaffee.“

„Fein, dann sehen wir uns nachher. Ich freu mich.“

„Ich mich auch. Bis später.“ Christina beendete das Gespräch.

„Ah“, neckte Danielle sie und zwinkerte mit einem Auge. „Da ist aber jemand sehr verliebt. Was!“

„Hat das überhaupt einen Sinn? Ich reise in drei Wochen wieder ab.“ Christina schaute etwas geknickt.

„Genieß es erst einmal. Alles andere findet sich.“, erwiderte Danielle.

„Vielleicht hast du recht.“ Christina stand auf. „Danke für den Kaffee.“ Sie warf Danielle eine Kusshand zu und ging.

 

***

Christina saß bei Andrè im Restaurant. Sie hatte sich einen Tisch draußen, wie immer etwas abseits des Fußgängerstroms gesucht. André hatte drin noch etwas zu erledigen. Einen Kaffee hatte er ihr aber vorher noch gebracht und ihr dabei einen zärtlichen Kuss gegeben. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und beobachtete das Treiben in der Fußgängerzone. Die Menschen schlenderten die Straße rauf und runter und machten einen entspannten Eindruck. Sie hatten Urlaub, keinen Druck, die Sonne schien, und sie wollten Neues kennenlernen. Wie das so ist im Urlaub. Die schönsten Wochen des Jahres, die wollte man genießen.

André kam mit zwei großen Tellern Pasta wieder an den Tisch. Paul folgte ihm mit zwei Glas Wein. Als sie beide dann allein am Tisch saßen, sagte André: „So, nun erzähl mal. Was war los?“ Christina erzählte ihm alles sehr ausführlich. Von ihrer ersten Übernachtung im Hotel, dass sie Loulou und ihre Großmutter so sympathisch fand und vom gestrigen Abend bzw. dem heutigen Tag und dass sie den beiden einfach helfen wollte. Vor lauter erzählen musste sie aufpassen, dass sie das Essen nicht vergaß und die Nudeln kalt wurden.

„Und nun, wie soll es weitergehen? Loulou kann jetzt erst einmal bei dir übernachten. Aber die nächsten Wochen bis ihre Großmutter wieder zu Hause ist?“

„Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Morgen früh gehe ich erst einmal ins Hotel und empfange die Gäste. Ich werde sehen, wie lange sie bleiben wollen und dann sehen wir weiter.“

Die Tische vor dem Restaurant waren in der Zwischenzeit alle besetzt und Paul hatte alle Hände voll zu tun. Mit schnellen Schritten balancierte er die Teller und die Getränke auf dem Tablett durch die Tischreihen. Kaum hatte er etwas abgestellt, schnellte irgendwo eine Hand hoch und er ging zu den nächsten Gästen.

„Ich glaube, ich muss jetzt auch mal was tun.“, sagte André und erhob sich. „Die Rechnung geht aufs Haus.“, scherzte er und zwinkerte ihr zu.

Christina lachte. „Nicht, dass dein Lokal noch pleite geht.“

„Sehen wir uns heute Abend?“, fragte André. Christina nickte.

Sie blieb noch sitzen und trank in aller Ruhe ihren Wein aus. Nebenbei beobachtete sie André, wie er mit den Gästen sprach. Er hatte so eine besondere Art, dass man sich gleich wohlfühlte, und jeder glaubte, man würde sich schon lange kennen.

Bevor sie nach Hause ging, wollte sie in dem kleinen Lebensmittelladen am Boulevard Gambetta noch etwas einkaufen. Wenn sie die nächsten Tage zu zweit waren, dann würde das, was sie im Kühlschrank hatte, nicht reichen. Haben Teenager eigentlich großen Hunger? Sie stand auf, nahm ihre Tasche und winkte André und Paul noch einmal zu.

 

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