Sommer am Pont-du-Gard – Kapitel 9

Loulou saß auf der Terrasse über ihren Büchern. Eigentlich wollte sie ihre Hausaufgaben machen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer musste sie an ihre Großmutter denken. Hoffentlich wurde sie wieder ganz gesund.

Sie war froh, dass die letzten beiden Stunden ausgefallen waren. Ihre Freundinnen wollten sie noch überreden, mit ihnen etwas trinken zu gehen, aber sie hatte keine Lust. Sonst immer, aber nicht heute. Sie wollte Christina fragen, ob sie heute Abend noch einmal ins Krankenhaus fahren könnten. Gesagte hatte sie es ja. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen, dass sie bei ihr bleiben konnte. Fragte sich nur wie lange. Nie wäre sie in so ein komisches Heim oder eine Pflegefamilie gegangen. Sie wollte später wieder mit ihrer Großmutter zusammen sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter irgendwann einmal nicht mehr da sein würde.

Loulou schaute wieder auf ihr Heft. Ach, diese blöden Mathe-Aufgaben. Sie wollten ihr heute nicht gelingen. Dabei machte Mathematik ihr nie etwas aus. Es war ihr stärkstes Fach.

Sie hatte heute Morgen Monsieur Carbon vor der Klassentür abgepasst, so wie Christina es ihr gesagt hatte. Mit seiner braunen Ledertasche unter dem Arm kam er den Gang herunter. Die Ärmel seines blauen Hemdes hatte er hochgekrempelt. Leichte Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Loulou stand am Fenster. Er kam auf sie zu und fragte, warum sie nicht in der Klasse war. Vor Aufregung fing Loulou das Stottern an, kleine hektische Flecke bildeten sich auf ihrem Gesicht. Sie erzählte schnell in kurzen Sätzen, was passiert war. Dann stand sie da. Den Kopf gebeugt, die Schultern leicht nach oben gezogen, die Arme hingen an ihrem Oberkörper herunter, so, als wenn sie auf ein Donnerwetter warten würde. Aber nichts dergleichen geschah. Monsieur Carbon sagte, dass es ihm leidtun würde und dass er ihrer Großmutter alles Gute wünsche. Er sagte ihr aber auch, dass ihre Noten in letzter Zeit schlecht bis sehr schlecht ausgefallen waren. Nicht nur in seinen Fächern. Ob es für eine Versetzung reichen würde, das konnte er ihr noch nicht versprechen. Er wollte sehen, was er in der Zeugniskonferenz erreichen konnte. Loulou nickte bloß, schaute ihn an und sagte zerknirscht: „Danke.“ Dann ging sie voraus in die Klasse.

***

Christina schloss die Haustür auf und jonglierte mit ihren zwei großen Einkaufstüten im Arm, dass ihr nur nichts herunterfiel. Mit einem Hüftschwung gab sie der Tür einen Schups, damit diese wieder zufiel. Sie stellte die Einkäufe auf dem Küchentresen ab und sah die Terrassentür aufstehen. Draußen saß Loulou am Tisch, den Kopf über Bücher gebeugt.

„Hallo, du bist ja schon da.“, rief sie und ging nach draußen.

„Die letzten zwei Stunden sind ausgefallen.“, sagte das Mädchen, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Dabei kaute sie am Ende ihres Stiftes herum.

Christina setzte sich auf einen Stuhl. „Was haben die Lehrer gesagt? Hast du ihnen erklärt, warum du gestern nicht in der Schule gewesen bist?“

„Mm.“, kam nur hinter den langen blonden Haaren hervor, die Loulou ins Gesicht fielen.

„Gehts auch in ganzen Sätzen?“, fragte Christina. „Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“

„Ist doch eh alles egal!“, brauste Loulou auf. Sprang vom Stuhl auf, der nach hinten umkippte. „Ich bleibe sitzen und muss ein ganzes Jahr wiederholen. Was soll ich denen noch groß erklären! Es versteht mich doch sowieso keiner!“ Sie schmiss ihren Stift auf die Bücher und lief ins Haus.

Puh. Da kam alles zusammen. Trauer, Verzweiflung, Wut. Was konnte sie einem jungen Mädchen sagen, das gerade in so einem tiefen Loch feststeckte. Christina hatte so gar keine Erfahrung damit. Bis jetzt hatte sie immer nur mit Erwachsenen zu tun. Wie ein Teenager tickt, das wusste sie so gar nicht. Sie ging Loulou hinterher. Als sie ins Wohnzimmer kam, saß das Mädchen mit angezogenen Beinen auf der Couch. Der Kopf lag auf den Knien. Sie setzte sich neben sie.

„Hey“, sagte Christina leise. „Können wir reden?“

„Mmmm“, kam hinter den langen Haaren hervor.

„Ich weiß, dass es dir gerade nicht gut geht, und einfach ist es schon gar nicht. Aber warte doch erst einmal ab, bis du dein Zeugnis in den Händen hältst. Vielleicht kannst du ja noch was an den Zensuren machen. Schreibt ihr noch Arbeiten?“

„Mmmm“, kam wieder irgendwo hinter ihren Beinen hervor.

„In welchen Fächern?“, fragte Christina.

Loulou hob den Kopf, ihre Augen standen voll Tränen. „Literatur, Englisch und Mathematik.“, kam stockend aus ihrem Mund. In ihren Händen knetete sie ein Taschentuch.

Christina rutsche vorsichtig an sie heran und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Dann bereite dich auf die Arbeiten besonders gut vor. Vielleicht kannst du mit guten Noten noch etwas am Notendurchschnitt ändern.“

Loulou nickte und schniefte in ihr Taschentuch. „Und wenn du die Versetzung geschafft hast, egal wie, dann kann es im nächsten Jahr doch nur besser werden. Oder?“ Wieder kam nur ein zaghaftes nicken.

„Wollen wir noch mal zu deiner Großmutter fahren?“

Als Loulou das hörte, schauten ihre Augen schon fröhlicher. „Ja. Bitte.“ Christina nahm sie in den Arm.

***

Auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause, hatte Christina Loulou gefragt, ob es für sie in Ordnung sei, wenn sie abends zu André gehen würde oder ob sie lieber bei ihr zu Hause bleiben sollte. Zum Glück ging es der Großmutter schon wieder besser, sodass Loulous Laune sich sehr zum Positiven verändert hatte. So war es für sie gar kein Problem, alleine zu sein. Sie wollte sich sogar noch hinsetzen und für die Schule lernen.

Christina parkte das Auto in der Einfahrt. Als sie mit Loulou auf halbem Weg zur Eingangstür war, kam Danielle aus dem Haus und mit schnellen Schritten auf sie zu.

„Christina! Hast du ein paar Minuten für mich?“ Sie war aufgeregt. Man konnte es an ihrer Stimme hören.

„Ja, was gibts denn?“ Loulou machte Zeichen, dass sie schon ins Haus gehen würde.

„Der Mann aus dem schwarzen Auto war da!“, sagte sie ernst. Ihre Stimme wackelte etwas.

„Wie? Da?“

„Na ja. Da. Drin. Bei mir drin und wollte mit mir sprechen.“, erwiderte Danielle ungeduldig.

„Wer war er? Was wollte er?“, fragte Christina ungläubig. Sie fasst Danielle vorsichtig am Arm und dirigierte sie zu den Gartenstühlen vor dem Haus. Dort setzten sich beide erst mal.
 

„Erzähl schon! Was wollte er?“, bohrte Christina nach.

Danielle erzählte, dass er plötzlich im Flur stand, als sie aus dem Garten kam. Er fragte nach Beau, wo sie ihn her hätten, wie lange sie ihn schon hätten und wie alt er wäre. Der Mann sagte, dass er auch mal so einen Hund hatte und dass er fortgelaufen sei vor einigen Jahren. Genau in dieser Gegend. Sie hatten mit ihrem kleinen Zirkus ein paar Vorstellungen in Uzés und auf der Fahrt zum nächsten Ort ist er fortgelaufen. Die Tür eines Zirkuswagens, in dem der Hund war, war nicht richtig verschlossen und öffnete sich während der Fahrt. Dass der Hund nicht mehr da war, wurde viel zu spät bemerkt. Alle Zirkusleute sind den Weg noch einmal zurück und haben das Tier gesucht. Aber vergebens. Durch Zufall hatte er Beau und Leo in der Stadt gesehen. Der Zirkus war wieder da und hatte das Zelt mit den Wagen außerhalb der Altstadt auf dem großen Festplatz aufgeschlagen.

Sie erzählte weiter, dass sie in dem Moment etwas verwirrt war. Da kommt dieser Mann einfach in ihr Haus, ohne zu klingeln und erzählte ihr so eine Geschichte. Sehr vertrauenserweckend sah er nicht aus. Ganz in schwarz gekleidet, den schwarzen Hut mit der großen Krempe hatte er nicht abgesetzt. Sie konnte sein Gesicht nicht gut erkennen und dann dieser Bart. Er hatte einen Moustache, einen Oberlippenbart mit langen Enden auf beiden Seiten, die nach oben gezwirbelt waren. Der Bart am Kinn war lang und dicht. Dieser schwarze Mann machte ihr etwas Angst. Was wollte er nun wirklich. Was erwartete er von ihr. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Auf ihre Frage, ob er Beau etwa mitnehmen wolle, reagierte er nicht. Der Mann schaute sie nur unschlüssig an.

„Ich werde nicht klein beigeben!“, sagte Danielle mit kraftvoller Stimme. „Kämpfen werde ich bzw. wir. Wir werden nicht zulassen, dass man uns Beau wegnimmt. Dann muss er erst einmal beweisen, dass der Hund wirklich ihm gehört. Da kann ja jeder kommen. Jedenfalls hat der Mann nur mit den Schultern gezuckt und sagte, dass er sich das noch überlegen würde. Er würde wiederkommen. Dann hat er sich umgedreht und ist gegangen.“

Danielle war etwas atemlos. Sie war so aufgebracht und hatte so schnell erzählt.

„Kannst du dir vorstellen, wie ich mich da gefühlt habe?“

„Und er hat nicht gesagt, was er nun wirklich wollte?“, fragte Christina.

„Nein. Er kann uns doch nicht einfach Beau wegnehmen. Als wir ihn fanden, hatte er kein Halsband um. Wir haben überall Aushänge gemacht und gefragt, ob jemand einen Hund vermisst. Bei der Polizei haben wir nachgefragt. Nichts! Und jetzt kommt dieser Mann, nach Jahren, und sagt, dass das aller Wahrscheinlichkeit sein Hund ist.“ Danielle schlug mit der Hand auf den Tisch.

„NEIN!“

„Hallo. Was ist denn hier los? Gibt es ein Problem?“ Eric kam lachend den Weg entlang. Die beiden Frauen hatten ihn gar nicht bemerkt.

„Das lass dir mal von deiner Frau erzählen. Ich habe eine Verabredung.“, sagte Christina und an Danielle: „Wir sehen uns und Kopf hoch.“

Eric beugte sich über Danielle und gab ihr einen Kuss. „Was ist los?“, fragte er nochmals. Danielle erhob sich. „Komm mit. Ich erzähle es dir drin.“ Sie ging vorweg ins Haus.

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