Sommer am Pont-du-Gard – Kapitel 5

André kann die schöne Fremde nicht vergessen. Erst sah er sie abends in seinem Restaurant und heute wollte es der Zufall, dass er sie auf dem Markt traf. Er musste sie einfach ansprechen. Vielleicht konnte er ein wenig mehr über sie erfahren. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass er ihr am Abend bei seinen Freunden Danielle und Eric schon wieder begegnen würde.

Kapitel 5

Am nächsten Morgen packte Christina nach dem Frühstück noch ihre restlichen Sachen aus und verstaute alles in der Kommode und im Kleiderschrank. Sie hatte so gut geschlafen. Nur einmal ist sie von einem bellenden Hund in der Ferne wach geworden. Als sie fertig war, stand sie da und schaute sich um. So und nun? Vier Wochen Urlaub, was wollte sie alles unternehmen? Sie schaute auf die Uhr. Halb zwölf. Ach, einfach erstmal raus. Alles andere findet sich. Sie griff nach ihrer Tasche und verließ die Wohnung. Auf dem Weg zum Gartentor sah sie Danielle, die gerade ihre Einkäufe aus dem Auto holte. Beide Frauen winkten und riefen sich ein Salut zu.

Christina ging in Richtung Touristenbüro. Daneben lag eine kleine Buchhandlung, die hatte bestimmt auch Zeitschriften. Sie wollte schauen, ob sie dort etwas in deutscher Sprache fand. Als sie um die Ecke bog, sah sie schon von weitem, dass ihr Loulou mit schnellen Schritten entgegenkam. Sie schaute nicht links und rechts und ihr Gesichtsausdruck war auch nicht gerade fröhlich.

„Hallo, Loulou. Wie geht es dir?“, sprach Christina das Mädchen an.

„Oh, salut Madame. Mir geht es gut, danke.“

„Ganz sicher?“, fragte Christina.

„Ja. Ich bin in Eile. Die Pause ist gleich vorbei und ich muss zurück in die Schule, bevor es jemand merkt.“

Loulou blieb nicht stehen und ging schnellen Schrittes weiter. Nun gut, dachte sich Christina. Das Mädchen sah aber wirklich nicht gut aus. Sie war blass und ihre Augen schauten traurig. Gestern im Hotel hatte sie gar nicht so darauf geachtet. Nein, so war sie nicht gewesen. Christina konnte sich erinnern, dass Loulou sie freundlich und überschwänglich begrüßte hatte. Sie drehte sich noch einmal um und schaute in die Richtung, in der Loulou mit schnellen Schritten verschwunden war.

In der Buchhandlung fand sie tatsächlich ein paar Zeitungen und auch ein Taschenbuch. Wann hatte sie das letzte Mal ein Buch in der Hand gehalten. Sie wollte sich heute Nachmittag in den Garten setzen und lesen. Christina stand vor dem Laden und schaute sich um. Wenn sie sich nicht täuschte und den Stadtplan vorhin richtig gelesen hatte, musste linker Hand die Église Saint-Étienne sein. Die wollte sie sich heute ansehen.

 

***

Loulou war froh, dass sie Christina so schnell abwimmeln konnte. Die Mittagspause fing gleich an und dann musste sie sich wieder auf das Schulgrundstück schummeln. Für ihre Lehrer würde sie sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, warum sie am Morgen nicht in der Schule war. Na egal, die Versetzung sah jetzt schon mau aus. Viel schlimmer konnte es nicht kommen. Aber was sollte sie machen? Sie musste einfach ihrer Großmutter helfen. Ihr ging es heute wieder nicht so gut. Grandmer dachte, sie könnte das vor ihr verbergen. Aber Loulou beobachtete das schon eine ganze Weile. Die alte Dame machte öfter mal eine Pause und setzte sich, sie atmete dabei etwas schwer. Wenn Loulou fragte, winkte sie einfach ab und sagte, dass sie schlecht geschlafen habe. Das junge Mädchen fragte sich manchmal, was sie machen sollte, wenn ihre Großmutter tatsächlich nicht mehr das Hotel führen konnte, und sie im schlimmsten Fall ins Heim müsste. Wo sollte sie dann hin?

Nachdem ihre Eltern vor 4 Jahren bei einem Autounfall gestorben waren, hatte Grandmer sie aufgenommen. Die Schwester ihrer Mutter lebte in der Bretagne und da wollte sie auf keinen Fall hin. Es war schon schlimm genug, als die Polizisten ihr und ihrer Großmutter damals die Nachricht von dem Unfall überbrachten. Loulou dachte erst sie hätte sich verhört. Sie konnten sie nicht meinen. Morgens hatte sie mit Mama und Papa doch noch gefrühstückt. Papa hatte viel gescherzt und Loulou damit zum Lachen gebracht. Sie ging dann zur Schule und ihre Eltern wollten zu einer Cousine von Mama. Die hatte ihr erstes Kind bekommen. Wie Mütter dann so sind, Mama wollte unbedingt das Baby sehen. Mit dem Auto brauchten sie etwa eine Stunde. Auf der Rückfahrt wurden sie von einem Auto überholt. Der Fahrer des Wagens hatte den Gegenverkehr nicht beachtet und so kam es, dass er den Wagen ihrer Eltern von der Fahrbahn abdrängte und sie gegen einen Baum prallten. Ihr Vater war sofort tot. Ihre Mutter starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Loulou wollte auf gar keinen Fall in die Bretagne. Das Jugendamt war erst sehr skeptisch, als ihre Großmutter den Vorschlag machte, das Mädchen aufzunehmen. Nach vielem hin und her kam man überein, dass man es verssuchen wollte. Loulou zog zu ihrer Großmutter in die kleine Wohnung über dem Hotel.

Das Mädchen kam vor der Schule an, als sich gerade das Tor öffnete. Schülerinnen und Schüler, die ihre Mittagspause zu Hause verbrachten, kamen ihr entgegen. Ob sie tatsächlich nach Hause gingen, stand auf einem anderen Blatt. Oftmals gingen sie auch nur in die Stadt und verbrachten da ihre Mittagspause. Sie saßen dann in Cafés oder Bistros hörten Musik und erzählten sich ihre kleinen Abenteuer außerhalb von Schule und Familie. Loulou drängelte sich gegen den Strom unter Protest der Jugendlichen hindurch auf das Schulgelände. Sie ging geradewegs in Richtung Schulhof, als Monsieur Carbon ihr entgegenkam. Sie ahnte nichts Gutes.

„Loulou, ich habe dich in Mathe und Physik vermisst. Wo bist du gewesen?“

„Es tut mir Leid, Monsieur. Es ging nicht anders. Ich musste meiner Großmutter helfen. Sie fühlte sich nicht wohl.“

„Soso! Das wievielte Mal ist das!“ Er schaute sie mit zusammengeniffenen Augen an.

Loulou mochte Monsieur Carbon erst gar nicht ansehen. Dann hob sie ruckartig den Kopf und schaute ihm in die Augen.

„Es ging wirklich nicht anders. Es kommt nicht wieder vor!“

Eigentlich fand sie ihren Mathelehrer ganz in Ordnung. Er war einer, mit dem man reden konnte. Aber in letzter Zeit hatte sie wirklich schon das ein oder andere Mal Stunden abgeklemmt und da kam sie dann irgendwann auch bei ihm nicht mehr mit durch.

„Hör zu, Loulou. Deine Versetzung steht eh schon auf der Kippe. Ich weiß nicht, wie du das in drei Wochen schaffen willst.“ Er schaute sie an. Von Loulou kam keine Antwort.

„Du kannst gehen“, er machte eine leichte Kopfbewegung. Sie machte sich auf den Weg zu ihren Schulfreundinnen, die ein paar Meter weiter am Turnhalleneingang auf sie warteten. Ihr Gang war etwas schleppend und sie schaute auf den Boden. Die Mädchen liefen ihr entgegen und nahmen sie in ihre Mitte. Tröstende Worte kamen von allen Seiten.

Nach der letzten Unterrichtsstunde ging Loulou auf direktem Weg nach Hause. Als sie das kleine Hotel betrat, saß ihre Großmutter an der Rezeption. Loulou hatte das Gefühl, dass sie blasser aussah als sonst.

„Grandmer, was tust du hier? Du solltest dich doch hinlegen.“

„Ich kann doch das Hotel nicht sich selbst überlassen. Die Tür hätte zugesperrt sein müssen. Was ist, wenn Gäste kommen?“

Madame Legrand wusste, dass so schnell keine Gäste kommen würden. Dieses Jahr wäre dann schon das dritte Jahr, dass das Hotel nicht gut lief. Sie wusste bald nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Diese paar Touristen, die kamen, blieben nur eine Nacht, höchstens zwei. Das Hotel war schon lange nicht mehr ausgebucht. Sie wusste selbst, dass das eine oder andere nicht mehr auf dem neuesten Stand war. Es müssten unbedingt einige Reparaturen und Renovierungen durchführt werden. Aber wovon? Das wenige reichte gerade für Loulou und für sie zum Leben. Sie wollte nächste Woche noch einmal mit der Bank sprechen. Vielleicht würde man ihr den bereits bestehenden Kredit aufstocken.

„Wie geht es dir jetzt, Grandmer?“

„Es geht schon, meine Kleine. Es geht schon. Mach dir keine Sorgen.“, antwortete Madame Legrand lächelnd und blätterte weiter in ihren Unterlagen.

Loulou schaute sie an und ging langsam in den Raum hinter die Rezeption. Sie musste unbedingt ihre Aufgaben für die Schule erledigen und noch einiges mehr, was sie die letzten Tage hatte schleifen lassen. Vielleicht konnte sie noch einige Punkte für ihre Zeugniszensuren gutmachen. Wenn sie hier unten blieb, war sie im Notfall schneller bei ihrer Großmutter, als wenn sie nach oben in die Wohnung ging. Man konnte ja nie wissen.

Binette Legrand schaute ihrer Enkelin hinterher. Die arme Kleine. Immer machte sie sich so viel Sorgen. Ihr ging es seit einiger Zeit wirklich nicht so gut. Das Atmen viel ihr schwer und ab und zu wurde ihr schwindelig. Sie versuchte es so gut es ging vor dem Mädchen zu verbergen.

Binette Legrand wollte das Hotel unbedingt so lange weiterführen, bis Loulou soweit war, es zu übernehmen. Ihre Enkelin hatte ihr erklärt, dass das Haus, was schon länger in Familienbesitz war, erhalten werden musste. Sie wollte das Hotel gerne weiterführen. Aber, das würde noch seine Zeit dauern.

Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie damals plötzlich die Gendarmerie vor der Tür stand und ihr sagte, dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Binette war fassungslos. Am Morgen hatte sie doch noch mit beiden gesprochen. Sie schwankte etwas und musste sich am Türrahmen festhalten. Sie hatte das Gefühl, der Boden würde sich unter ihr auftun. Ihr Gesicht schien um Jahre gealtert. Keiner dachte in dem Moment an das Mädchen, an Loulou. Sie stand in der Küche und schaute durch einen kleinen Spalt zur Wohnungstür. Sie hörte jedes Wort. Was bedeutete für ein Kind das Wort tot? Konnte es erfassen, dass es seine Eltern nie wiedersehen würde? Keine Mama, die ihr morgens die Haare kämmte und sie zärtlich auf die Stirn küsste, wenn sie zur Schule ging. Kein Papa, auf dessen Schoß sie klettern konnte und der ihr Geschichten erzählte, die sie zum Lachen brachten. Mit ihm hatte sie Spaziergänge am Gardon gemacht und sie hatten Steine im Flussbett gesucht. Papa hatte immer ganz besondere gefunden. Einer sah aus wie ein Schneckenhaus, ein anderer wie ein Fisch. Loulou hatte die Steine alle in ihrem Zimmer auf der Fensterbank liegen. Sie riss die Küchentür auf und lief, wie in Panik, die Treppe rauf. Von oben hörte man eine Tür laut ins Schloss fallen.

Die Gendarmen waren gegangen und Madame Legrand ging die Treppe hinauf, um nach ihrer Enkelin zu sehen. Diese stand in ihrem Zimmer am offenen Fenster und hatte einen Stein in der Hand. Sie schaute hinaus und sah doch nichts. Binette nahm das Mädchen in den Arm und hielt sie zärtlich ganz fest. Beide sagten kein Wort, nur die Tränen liefen über ihre Wangen. Draußen fuhren die Autos auf dem Boulevard Gambetta vorbei, wie jeden Morgen. Die PKWs hupten, weil die Lastwagen am Straßenrand ihnen den Weg versperrten. Es war wie immer und trotzdem hatte sich die ganze Welt verändert. Sie war plötzlich stehen geblieben. Großmutter und Enkelin wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Ihrem Gefühl nach, konnte es nicht weitergehen. Zu groß war der Schmerz, der sie beide beinahe erdrückte.

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4 Antworten

  1. Liebe Gudrun,
    ‚es war wie immer und trotzdem hatte sich die ganze Welt verändert. ‚ So ist das wohl meistens, wenn das Schicksal sich plötzlich auf uns konzentriert…
    Du entführst uns mit Deiner Geschichte in ein schönes Leben – aber was wäre eine Geschichte ohne ihre dunklen Seiten?
    Nach diesem Kapitel bin ich gespannt, ob sich die Sache so weiterentwickelt, wie ich es mir gerade ausmale?!
    Liebe Grüße und schönen Sonntag
    Nicole

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