Die warme Sommerluft lag am Abend noch wie eine Glocke über der Stadt. Christina ging mit ihrer Mutter Arm in Arm durch die Straßen. Ihr Weg führte sie durch den Torbogen am Boulevard Gambetta auf den Place aux Herbes. Sie wollten sich ein kleines Restaurant suchen und den Abend und den Besuch ihrer Mutter dort ausklingen lassen.
Frau Berger hatte sich morgens die Innenstadt angeschaut und war über dem Markt gebummelt. Dabei hatte sie das Restaurant entdeckt, in das sie ihre Tochter einladen wollte. Christina wurde langsam unruhig. Sie bemerkte, in welche Richtung ihre Mutter sie führte. Auf dieser Straße gab es nur zwei Restaurants. Frau Berger steuerte genau auf Andrés Restaurant zu. Sie hatte es befürchtet. Ihr fiel keine passende Ausrede ein und ehe sie sich versah, ging sie auch schon auf Paul zu und fragte nach einem Tisch. Mit zwei Speisekarten unter dem Arm führte er sie zu ihren Plätzen.
In dem Moment sah Christina André aus der Tür kommen. Paul hatte ihm sicher gesagt, dass sie da war. Oh, bitte nicht das auch noch. Sie hatte keine Lust ihrer Mutter Rede und Antwort zu stehen. Und sie würde nicht locker lassen, bis sie alles bis ins Detail wusste. Christina kannte sie. André trat mit einem freudigen Gesichtsausdruck zu ihnen an den Tisch und wollte gerade zu sprechen ansetzen.
„Bitte bringen Sie mir einen trockenen Weißwein. Und du Mutter, was möchtest du?“, sagte Christina schnell und blickte sie an. André stutzte und sah sie verständnislos an. Ihre Mutter merkte zum Glück nichts, sie schaute noch in die Karte. Christina hob leicht den Kopf, um seine Reaktion zu sehen, vor der sie sich fürchtete. Er blickte sie fragend an und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Was soll das. Hilflos schaute sie André an und zuckte unmerklich mit den Schultern. Frau Berger gab ihre Bestellung auf und ohne Christina noch einmal anzuschauen, drehte er sich um und ging. Sie fühlte sich schlecht. Was hatte sie getan! Sie musste unbedingt versuchen, André die Sache zu erklären. Sie würde jetzt bei ihrer Mutter so tun, als wenn sie die Toilette aufsuchen wollte. Dann konnte sie im Restaurant schnell mit André sprechen.
„Ich bin gleich wieder da, Mama.“ Christina erhob sich und schlängelte sich durch die Tische hindurch ins Restaurant. André stand hinter dem Tresen. Er blickte kurz auf und als er sie sah, konzentrierte er sich wieder auf den Wein, den er gerade in ein Glas goss. Zerknirscht stand sie vor ihm.
„André, es tut mir leid.“, sagte sie leise. Sie wollte ihre Hand auf seine lege. Er aber entzog sich ihr.
„Sind wir jetzt wieder per Sie? Hättest du mir vielleicht vorher sagen sollen, dann hätte ich nicht wie ein Idiot dagestanden.“ Seine Stimme klang abweisend und hart.
„André, bitte. Ich habe überreagiert. Das hätte ich nicht tun dürfen. Aber ich möchte meiner Mutter noch nichts von uns erzählen. Es ist noch so frisch. Sie ist herzensgut, aber sie wird fragen und wird dann alles ganz genau wissen wollen. Ich möchte nicht, dass das, was wir gerade miteinander haben, von anderen zerreden wird. Auch nicht von meiner Mutter.“
„Warum habt ihr euch dann nicht ein anderes Restaurant ausgesucht?“
„Weil sie mich eingeladen hat und unbedingt hier her wollte.“ Ihre Stimme hatte einen ungeduldigen Ton angenommen. Christina schaute ihn an. André hob immer noch nicht den Blick.
„Ich habe dich vermisst.“, sagte Christina leise. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“
„Gerade mal einen Tag.“, erwiderte André. „Ich bringe euch eure Getränke. Geh wieder raus zu deiner Mutter.“ An seiner Stimme merkte sie, wie verletzt er war. Aber seine Augen schauten nicht mehr so hart wie am Anfang, eher traurig. Nach einem letzten Blick zu ihm drehte sie sich um und ging wieder zu ihrem Platz.
Paul kam zu ihnen an den Tisch und brachte die Getränke. Ob er etwas mitbekommen hatte? André hatte für heute wohl genug von ihr.
„Ist was, mein Kind?“, fragte ihre Mutter.
„Alles gut, Mama.“ Christina versuchte, freundlicher zu schauen.
Sie gaben bei Paul die Bestellung für ihr Essen auf. Um den letzten Abend mit ihrer Mutter nicht zu belasten, konzentrierte sich Christina ganz auf sie und stellte die Gedanken an André hinten an. Sie würde ihn nachher noch einmal anrufen in der Hoffnung, dass er überhaupt mit ihr sprechen wollte.
***
André stand am Tresen und schaute aus dem Fenster. Er konnte von hier aus Christina bei ihrer Mutter am Tisch sitzen sehen. Was da vorhin passiert war, hatte in sehr verletzt. Was hatte sich Christina nur dabei gedacht. Warum verleugnete sie ihn. Hatte er sich in ihr getäuscht? Waren ihre Gefühle doch nicht so, wie sie vorgab? Vielleicht suchte sie nur ein Urlaubsabenteuer und wenn sie in zwei Wochen wieder zurückfuhr, dann war er schnell vergessen. Von sich konnte er jedenfalls behaupten, dass seine Gefühle tief und echt waren. So wie für sie hatte er lange nicht für eine Frau empfunden. Ja, in den letzten Jahren, in denen er nicht mehr mit Flore zusammen war, da gab es schon mal die eine oder andere Frau. Aber nichts Ernstes. Von beiden Seiten nicht. Touristinnen, die zum Essen kamen, flirteten gern. Warum nicht. Er hatte nur immer aufgepasst, dass Maeli nichts mitbekam und keine diese Frauen kennenlernte.
Dann kam Christina und er hatte von Anfang an gemerkt, dass da was anderes war zwischen ihnen. Vielleicht sollte er das Abendessen morgen mit Maeli und Christina vergessen.
„André?“
Er zuckte zusammen. Paul stand neben ihm. Das hatte er gar nicht mitbekommen.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, entschuldige. Was gibst?“
Paul musterte ihn eindringlich und schob ihm einen Zettel mit der nächsten Bestellung über den Tresen. André musste sich jetzt auf den Abend und die Gäste konzentrieren. Alles andere würde er später sehen.
***
Der Abend verging schnell und Christina brachte ihre Mutter noch zum Hotel. Sie verabschiedeten sich. Zum Glück hatte sie ihr den ganzen Abend nichts angemerkt. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück wollte Frau Berger ihre Reise fortsetzen.
Zu Hause angekommen, ließ sich Christina auf das Sofa fallen. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Was nun? Sollte sie André gleich noch mal anrufen. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Nein, es war noch zu früh. Das Restaurant hatte noch nicht geschlossen.
Die Schlafzimmertür ging auf und Loulou stand im schwachen Licht der Nachttischlampe.
„Habe ich dich geweckt?“, fragte Christina.
„Nö, ich habe Durst und wollte nur kurz was trinken.“, antwortete Loulou und tapste verschlafen barfuß in ihrem viel zu großen T-Shirt auf den Kühlschrank zu. Sie nahm sich eine Flasche Wasser. Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb sie stehen und schaute Christina an.
„Ist was?“
„Nein, alles ok.“
„Du guckst so komisch. Willst du es dir mit der Bank doch noch anders überlegen?“ Loulou war sich nicht sicher. Christina hatte so einen komischen Gesichtsausdruck. Vielleicht bereute sie ihre Entscheidung schon.
„Nein! Wie kommst du darauf. Natürlich nicht.“
„Gott sei Dank. Ich dachte schon.“
Sie ging ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Christina war mit ihren Gedanken wieder allein und wusste nicht, was sie machen sollte. Sie nahm ihr Handy und schaute unentschlossen aufs Display. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie wollte André eine SMS schreiben.
„Hey“, na ja, das war ja nicht gerade originel.
Sie schaute aufs Display und wartete auf eine Antwort. Es dauerte. Er wollte nichts mehr von ihr wissen. Doch da.
„Hallo.“
Was sollte sie ihm jetzt schreiben. Sie hatte ihm doch schon alles gesagt.
„Es tut mir leid.“
„Das sagtest du schon“, kam prompt eine Antwort zurück.
„Wenn ich könnte, dann würde ich es ungeschehen machen.“
„Wenn du dir nicht sicher bist, was uns angeht, dann solltest du diese Nacht darüber schlafen. Wir reden morgen. Guten Nacht.“
Das war’s also für heute. Sie legte ihr Handy bei Seite, ging ins Bad und hoffte, dass sie heute Nacht schlafen konnte. Aber sie wusste jetzt schon, dass das nichts werden würde.