Christina saß an der Rezeption, den Kopf in die Hand gestützt und dachte über die letzten Stunden nach. Sie hatte den ganzen Tag über genug zu tun. Die Vorbereitungen für das Frühstück heute Morgen hatte sie Gott sei Dank geschafft, bis die ersten Gäste in den Frühstücksraum kamen.
Ihre Mutter war nach dem Frühstück weitergereist und hatte auch nicht vergessen, ihr hundert gute Ratschläge mit auf den Weg zu geben.
Auch das Paar aus Nummer drei war wieder abgereist, dafür hatte ein junges Pärchen aus Schweden eingecheckt.
Das Gespräch mit dem Herrn von der Bank hatte ihr im Magen gelegen. Nachdem sie die Zimmer gemacht hatte und es etwas ruhiger geworden war, hatte sie sich ins Büro zurückgezogen und die Nummer, die im Brief angegeben war, angerufen. Die ersten zwei Versuche verliefen erfolglos. Es war immer besetzt. Beim dritten Versuch meldete sich ein Monsieur Morel. Er merkte natürlich sofort, dass sie keine Französin war und so musste sie ihm erst einmal erklären, warum eine Frau aus Deutschland ihn in dieser Sache anrief. Sofort kam von ihm der Einwand, dass er nicht berechtigt wäre mit ihr über die Vermögensverhältnisse von Madame Legrand zu sprechen, wenn sie keine Vollmacht hätte. Zum Glück hatte sie dieses Schreiben und konnte ihn beruhigen. Das war das Erste, was sie Binette gesagt hatte, als diese sie bat, das Gespräch mit der Bank zu führen. Sie erklärte ihm kurz, warum Binette die nächsten Wochen keine Möglichkeit hatte, persönlich vorbeizukommen. Monsieur Morel gab ihr einen Termin am Montag um 10 Uhr. Da hatte sie zum Glück noch Zeit, sich ein paar Unterlagen im Büro anzusehen. Vielleicht könnte ihr André auch helfen. Immerhin kannte er sich in der Gastronomie aus.
Christina wollte noch schnell ein paar Einkäufe machen. Mit einem Teenager im Haus, war der Kühlschrank immer ziemlich schnell leer. Aber vorher wollte sie noch in das Café „Salon de thé Nougatine“ und eine Schokolade trinken. Nirgendwo schmeckte diese so gut, wie in diesem Café.
***
Es war fast 19 Uhr. André schaute auf die Uhr. Christina ließ sich Zeit. Maeli war in der Küche und schnitt das Weißbrot in Scheiben. Sie war ganz konzentriert bei der Arbeit und wollte alle Scheiben gleich dick schneiden. Dabei schaute ihre Zungenspitze zwischen den Lippen hervor. Sie bemerkte es nicht. André musste lächeln, als er das sah. Auch ihre heiß geliebte Zitronenlimonade hatte sie schon vorbereitet.
Endlich klingelte es an der Wohnungstür. Er öffnete und da stand sie. Christina hatte ein dunkelblaues Kleid mit einem weißen Gürtel an und sie sah umwerfend aus. Ihre Haare trug sie erstmals offen, seitdem er sie kannte. Sonst hatte sie sie immer mit einer Spange am Hinterkopf zusammengenommen.
„Willst du mich nicht rein lassen?“, fragte Christina lachend.
André schüttelte leicht den Kopf, als würde er aus einem Traum aufwachen. „Entschuldige, natürlich, komm rein.“ Er trat zur Seite und öffnete die Tür weiter.
„Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.“
Christina schaute auf die Uhr. „Es ist doch gerade erst 19 Uhr.“, sagte sie erstaunt und sah dann André an.
„Außerdem wollte ich nicht vor Maeli da sein. Nicht dass sie denkt, ich würde mich hier schon zu Hause fühlen.“
„Tust du nicht?“
André schaute Christina verschmitzt an.
„Maeli, ich möchte dir gern jemanden vorstellen.“, rief er in Richtung Küche.
Zuerst schaute der blonde Lockenkopf etwas zaghaft um die Ecke, dann kam Maeli ganz zum Vorschein.
„Maeli, ich habe dir doch von Christina erzählt.“
„Hallo Maeli.“ Christina ging auf das Mädchen zu und hielt ihr die Hand hin.
„Hallo.“ Mehr kam von ihr nicht. Christina nahm ihre Hand zurück.
„Ich weiß ja nicht, ob du Süßigkeiten magst.“ Christina machte ihre Tasche auf und zog eine Tüte heraus. Sie sah, wie die Augen der Kleinen strahlten.
„Oh, les Bonbon. Die mag ich besonders gern.“
„Na, dann lass sie dir schmecken.“
„Danke.“ Maeli strahlte. War das Eis gebrochen?
„Aber erst nach dem Abendessen und nicht alle auf einmal.“
André musste diese Bemerkung einfach noch loswerden. Er kannte seine Tochter. Sie verschwand in die Küche und kam mit einem Tablett mit Gläsern, das sie vorsichtig balancierte, wieder zurück.
„Ich habe Zitronenlimonade gemacht. Magst du?“ Maeli stand mit dem Tablett vor Christina und schaute sie erwartungsvoll an.
Christina bedankte sich und nahm ein Glas und weil Maeli nicht den Blick von ihr ließ, probierte sie natürlich auch gleich.
„Mmmm, die schmeckt aber sehr gut!“ Maeli strahlte und ging zu André. „Papa.“
Auch André nahm sich ein Glas. „Lasst uns anstoßen, auf einen wunderschönen Abend.“
Alle drei ließen ihre Gläser aneinander klingen. André war sehr stolz auf seine kleine Tochter und blinzelte ihr verschmitzt zu. Maeli strahlte.
„Ich bin gleich wieder da. Ich hole nur schnell das Essen.“ André hatte das Abendessen bei seinem Koch bestellt. Er hatte schon die Türklinke in der Hand, als er sich noch einmal umdrehte und sagte: „Macht es Euch solange auf dem Balkon gemütlich und genießt Eure Zitronenlimonade.“
Christina ging mit ihrem Glas voraus auf den Balkon und Maeli folgte ihr. Als André zurückkam, saßen beide noch dort und unterhielten sich. Die Zitronenlimonade war ausgetrunken und die leeren Gläser standen auf dem Tisch.
„Papa, stell dir vor, Christina hat ein eigenes Boot. Und ein ziemlich großes Boot.“
„Wir haben doch auch ein Boot, Schätzchen.“ André ging mit dem Essen in die Küche, um alles anzurichten.
„Wir haben nur so ein kleines Ruderboot, wo wir auf dem Gardon mit fahren.“
„Ja, aber ich bin schon jahrelang nicht mehr gefahren, seitdem ich in Frankfurt wohne. Es steht bei meinen Eltern in der Reederei und wird nicht benutzt.“
„Ich würde gerne mal mit einem großen Boot auf dem Meer fahren.“, seufzte Maeli.
„Na komm, wir helfen dem Papa mit dem Essen.“
Christina stand auf und stupste Maeli an. Beide gingen in die Küche und trugen die angerichteten Teller zum Esstisch. Maeli holte noch ihr geschnittenes Baguette und André kümmerte sich um den Wein.
Maeli erzählte von der Schule und ihrer Lehrerin. Sie schwärmte von den kleinen Hunden auf dem Hof von Luc und dass sie auch so gerne einen Hund hätte. Ihr Blick wanderte dabei zu André. Der tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte.
Nach dem Essen mahnte André Maeli zum Aufbruch. Am nächsten Tag war wieder Schule und sie sollte pünktlich ins Bett. Er wollte das Mädchen nach Hause bringen. Sie räumten alle zusammen den Tisch ab und machten noch ein wenig Ordnung in der Küche.
„Wollen wir mal zusammen auf dem Gardon Boot fahren?“ Maeli schaute Christina an.
„Gerne, dann zeigst du mir dein Boot. Und wenn du Lust hast, dann kannst du mich auch gerne mal in meinem Ferienhaus besuchen oder im Hotel.“
„Chris, ich bringe Maeli nach Hause. Bleibst du?“, André schaute sie bittend an.
„Ich setze mich solange auf den Balkon. Geh nur.“
„Papa, bist du soweit?“
„Ja, ich komme.“
Maeli winkte Christina zu. „Bis bald.“
Christina winkte zurück. André warf ihr einen Handkuss zu.
Nachdem beide aus der Tür waren, schenkte sich Christina noch ein Glas Wein ein und setzte sich auf den Balkon. Der Süden Frankreichs. Genauso hatte sie es sich zu Hause vorgestellt. Nicht gerade, dass sie mit einem Glas Wein bei einem Mann auf dem Balkon saß, aber die Luft, die Geräusche, das bunte Treiben. Hier könnte sie bleiben. Sie machte die Augen auf und setzte sich ruckartig gerade hin. Schon das zweite Mal, dass ihr dieser Gedanke kam. Hierbleiben. Ganz was anderes machen. Das musste doch etwas bedeuten. Würde sie die Großstadt gar nicht vermissen? Den Verlag, ihre Arbeit. Ihre Eltern wären dann noch weiter von ihr entfernt. Aber Südfrankreich ist nicht aus der Welt. Christina hörte den Schlüssel in der Tür. André kam zurück. Christina stand auf und ging ins Wohnzimmer. Er ging auf sie zu und nahm sie in die Arme.
„Ich glaube, das haben wir ganz gut hinbekommen, oder?“, fragte er.
„Meinst du, sie mag mich?“
„Ich glaube schon und wenn sie dich noch ein wenige besser kennenlernt, dann wird sie dich lieben.“ Er lachte leise und vergrub sein Gesicht in ihre Haare.
Nur ungern löste er sich von ihr. André gab ihr einen Kuss auf die Nase und holte sich auch ein Glas Wein. Hand in Hand gingen beide wieder nach draußen. Bevor sich Christina in einen Sessel setzen konnte, zog er sie auf seinen Schoß.
„Sag mal, ich würde dich gern um etwas bitten.“, sagte Christina zu André.
„Hmmm,“ er trank gerade einen Schluck.
„Würdest du dir mal die Unterlagen von Madame Legrand anschauen? Ich habe am Montag einen Termin bei der Bank. Binette ist doch noch im Krankenhaus und sie fragte mich, ob ich das für sie machen würde.“
„Meinst du, der Mann von der Bank wird das mit dir besprechen?“
„Ich habe eine Vollmacht von Binette und ich habe das mit Herrn Morel telefonisch schon besprochen.“
„Was meinst du, wie ich dir helfen kann?“
„Wenn du dir die Einnahmen und Ausgaben mal anschauen könntest und wie die Auslastung in den letzten zwei Jahren war. Vielleicht können wir ein paar Ideen entwickeln, wie wir das Hotel zum Laufen bekommen. Wenn ich damit in die Besprechung gehe, lässt die Bank bestimmt noch einmal mit sich reden.“
„Also gut. Ich komme morgen Mittag im Hotel vorbei.“ Er nahm ihr das Weinglas aus der Hand und stellte beide Gläser auf den kleinen Tisch.
„Aber können wir jetzt vielleicht zu den wichtigen Dingen des Lebens kommen.“ Er zog sie zärtlich zu sich heran.
„Aber natürlich Monsieur, gerne.“, sagte Christina leise, bevor sich ihre Lippen zu einem langen Kuss fanden.